Wer sich auf den Markt als Übersetzer:in oder Dolmetscher:in begibt, hat zunächst die Frage nach Kunden. Viele Anfänger bemerken dann plötzlich, dass sich ihre ersten Aufträge gar nicht auf einen bestimmten Bereich beschränken, sondern ziemlich vielfältig sind. Heute übersetze ich etwas über die Landwirtschaft, morgen über Marketing, übermorgen über die Zahnmedizin. Verzettele ich mich, oder soll es auch so bleiben? Muss ich immer „Ja!“ zu jedem Thema und zu jedem Kunden sagen? Wie handhaben es andere Kolleg:innen?
Übersetzer:innen
Übersetzer:innen bemerken schnell, dass die Themenvielfalt sehr groß sein kann. Zum einen ist es Typsache: Mag ich es, mich in unterschiedliche Themen schnell einzuarbeiten? Oder fühle ich mich erst dann als Expert:in, wenn ich mich in einem Thema gut auskenne? Denn es gibt keine festen Regeln.
Ein fiktives Beispiel einer Spezialisierung:
Biologie -> Pilze -> giftige Pilze -> Fliegenpilze
Stellen wir uns vor, du hast dich immer für Biologie interessiert. Und zwar sammelst du passioniert Pilze und weißt ganz genau, welche Pilze giftig und welche nicht giftig sind. Könnte man mit diesen Kenntnissen in Richtung Spezialisierung gehen? Natürlich. Wenn man weiß: „Okay, die Polizei braucht immer Übersetzungen zu Fällen von Vergiftungen“, könnte man da nachfragen. Wenn ich mich enger auf eine bestimmte Pilzart spezialisiere, wie zum Beispiel Fliegenpilze, muss ich herausfinden, wer hier mein Kunde sein kann. Vielleicht ein Wissenschaftler, der gerade zu diesem Thema promoviert und seinen Artikel in den besten Zeitschriften auf Englisch veröffentlichen möchte? Oder ein experimentfreudiger Coach aus LA, der gerade seine reichen Kunden mit Psylocybin auf Trip schickt und seinen Markt auf Europa erweitern möchte? Auf jeden Fall musst du es selbst herausfinden, und vielleicht entdeckst du dabei ganz unerforschte Gebiete.
Kleine Sprachen, große Sprachen
Jedoch gibt es Beobachtungen aus der Praxis: Übersetzt man aus den verbreiteten Sprachen wie Englisch, Französisch oder Russisch, hat man sehr viele Kolleg:innen mit der gleichen Sprachkombination. Das bedeutet, dass man Kunden nur mit einem gewissen „Etwas“ werben kann. Dieses „Etwas“ kann zum Beispiel deine ungewöhnliche Spezialisierung sein. Übersetzt man aber aus den „kleinen“ oder seltenen Sprachen, ist die Nachfrage manchmal ausreichend, und man braucht nicht unbedingt eine Spezialisierung. Natürlich bemerkt man auch bei seltenen Sprachen mit der Zeit: Will ich nur im Bereich X bleiben und reicht mir die Nachfrage, um ein anständiges Leben zu führen, oder muss ich mich auch mit anderen Themen beschäftigen, weil ich sonst keine Aufträge bekomme?
Zahlende Kunden
Es gibt bestimmt tolle Themen, mit denen man sich sicher fühlt und wo man viele Texte übersetzen möchte. Die Frage ist nun: Gibt es Nachfrage in diesem Bereich? Wenn ja, wie gut werden in diesem Bereich Übersetzungen bezahlt? Meistens findet man schnell heraus, welche Spezialisierungen gesucht sind: Das sind entweder bestimmte große Branchen, oder es sind Branchen, in denen es sehr wenige Spezialisten gibt. Die interessanteste Branche bringt jedoch nichts, wenn sie schlecht zahlt.
Dolmetscher:innen
Für Dolmetscher:innen ist typisch, dass sie zu ganz unterschiedlichen Themen dolmetschen müssen. Besonders Konferenzdolmetscher:innen können ihre Bereiche nicht immer selbst aussuchen, weil es zu einem Thema oftmals nur wenige Konferenzen pro Jahr gibt. Andere Konferenztage müssen sie mit anderen Themen sammeln.
Jedoch ist es auch hier eine gewisse Spezialisierung möglich, zum Beispiel auf das Dolmetschen bei der Polizei oder bei Gerichten. Hier hängt die Nachfrage stark von deiner Sprachkombination ab. Immer wieder werden Dolmetscher:innen für Vernehmungen mit bestimmten Sprachen gesucht. Hier ist nur die Frage, ob dieser Bereich dich interessiert und wie gut du damit umgehen kannst.
Außerdem entstehen auf dem Markt ständig neue Bereiche: vom Telefondolmetschen bis hin zu Community Interpreting für bestimmte Sprachen. Daher solltest du immer auf dem Laufenden bleiben, denn du einen ganz neuen Bereich für dich entdecken kannst.
Tipp: Zum Thema „Spezialisierung“ gibt es zwei Bücher von Ricarda Essrich im BDÜ Fachverlag: „Positionierung für freiberufliche Übersetzer“ und „Praxisbuch Spezialisierung“.