Als wir für die DVÜD-Themenwoche das Motto „Selbst und beständig“ festlegten, wusste ich ganz genau, welchen Beitrag ich dazu schreiben könnte. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation, die sich mit der Zeit verschlechtern kann, war es irgendwie nicht logisch, einen Artikel über die Selbstständigkeit und Gründen zu schreiben. Jedoch ist vieles in dieser Welt nicht eindeutig und linear und mit diesem Artikel möchte ich angehenden Übersetzern und Unternehmern vor Augen führen, dass sich Unternehmertum besonders in Krisenzeiten von seiner ungewöhnlichen Seite zeigen kann.
Ein schwarzer Schwan und ein farbenfroher Unternehmer
Kennen Sie Nassim Nicholas Talebs Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignissen"? Was mich an diesem Buch begeistert, ist, dass der Autor von Bodenständigkeit und praktischen, sogar pragmatischen Argumenten ausgeht, obwohl das Buch eindeutig als philosophisch eingestuft werden kann. Beides — einerseits die Neigung zur Philosophie und andererseits die Bodenständigkeit — habe ich im Laufe der Jahre als Übersetzerin und Unternehmerin entwickelt. Wobei das Philosophische immer mein Steckenpferd war und der Wunsch, irgendwann mal ein eigenes Unternehmen zu betreiben, sich mit der Zeit entwickelt hat. In seinem Buch beschreibt Nassim Taleb die unvorhersehbaren Ereignisse, die er als „schwarze Schwäne" bezeichnet, weil man sie sich ebenso schwer vorstellen kann, wie einem nicht weißen, sondern außergewöhnlich gefärbtem Schwan zu begegnen — dabei ist die Existenz dieser schwarzen Schwäne ja nicht ausgeschlossen. Es geht also um Risiken, Wahrscheinlichkeiten und die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis. Als Fortsetzung ist das Buch „Antifragilität“ erschienen. Hier geht es um die Fähigkeit, nicht fragil und zerbrechlich, sondern resilient zu sein und gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Diese Fähigkeit wird im Buch allen lebendigen Wesen zugeschrieben.
Wozu diese lange Einleitung? Sie hat einen direkten Draht zum Unternehmer-Sein und -Werden — und damit zum Thema „Selbst und beständig“. Aus beiden Büchern habe ich interessante Ideen mitgenommen, die mir mein Leben als Übersetzerin und Unternehmerin erleichtern.
- Unternehmer lieben das Risiko? Nein! Unternehmer mögen kein Risiko, so Taleb. Es herrscht die Meinung, dass der Unternehmer sich eifrig in riskante Situationen begibt, um Profit zu erwirtschaften. Das ist ein weit verbreiteter Fehler. In der Tat versucht der Unternehmer mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Risiken zu minimieren, damit sein Unternehmen überlebt. Ja, erst mal ein so banales Ziel. Keine Schwärmereien von hohen Profiten, mehreren Angestellten, teuren Urlauben etc.
- Die falsche Behauptung, dass ein Festangestellter im Vergleich zum Unternehmer ein stabileres Leben hat. Das mag für eine bestimmte Zeitspanne stimmen, jedoch ist diese Behauptung nur zum Teil richtig. Man nehme eine beliebige Krise (2008 oder 2020) und beobachte, was mit den Arbeitsstellen und folglich mit Festangestellten passiert. Im Unterschied zu Festangestellten mögen Unternehmer viele offensichtliche Risiken im Alltagsleben haben (kein geregeltes Einkommen, mehrere Kunden, ständige Suche nach neuen Kunden), aber Risiken wie „plötzlich gekündigt zu werden und lange danach keinen Job finden“ sind im Großen und Ganzen für Unternehmer viel kleiner. Jedenfalls für einen guten Unternehmer. Wie kommt es dazu?
Die Risiken, die Unternehmer angeblich so sehr mögen, werden von Taleb sehr gut am Beispiel der Zwillingsbrüder erklärt.
Ein Beispiel mit Zwillingen: „offene“ und „versteckte“ Risiken
Am Beispiel von Zwillingsbrüdern — der eine Taxifahrer, der andere Angestellter, der nach 25 Jahren in einem Unternehmen seinen Job verliert, veranschaulicht Nassim Taleb: „Eine zentrale Illusion im Leben besteht darin, anzunehmen, Zufälligkeit sei riskant und schlecht; und Zufälligkeit könne beseitigt werden, indem man Zufälligkeit beseitigt.“ Mit anderen Worten: Die Risiken, die Freiberufler und Unternehmer auf sich nehmen, sind klar und verständlich: Ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung kann verkauft werden oder eben nicht. Es gibt keine Gewissheit darüber, dass das Produkt oder die Dienstleistung überhaupt Geld einbringt. Es gibt keine Garantie dafür, dass Zeit und Mühe für die Ausarbeitung des Produktes nicht ins Leere laufen. Und da tritt eine natürliche Folge dieser Ungewissheit ein: weil ich dieses Risiko sehe, ist klar, dass ich nach Rücksicherungsstrategien suchen muss, falls ich mein tolles Angebot nicht verkaufen kann. Freiberufler werden durch diese Not praktisch gezwungen, sich durch mehrere Kunden, Rücklagen und andere Strategien abzusichern. „Die Risiken eines Angestellten sind versteckt“. Eines Tages kann man die Stelle verlieren — was, wenn das in einer Krisenzeit passiert?
Unternehmertum: Fähigkeit entwickeln, mit Chancen und Risiken umzugehen
Am meisten irritiert es mich, wenn ich von meiner Krankenversicherung (oder Finanzamt — also von irgendwelchen Behörden) gefragt werde, welche Summe ich dieses Jahr verdienen werde oder wie viele Stunden pro Woche ich arbeite. Nichts stört mich mehr als diese Frage. Der Grund dafür ist simpel: Eine feste Arbeitsstundenzahl und Vorhersagbarkeit der Summen, die am Ende des Monats auf meinem Bankkonto landen, gibt es nicht. Diese Zahlen gelten nur für Festangestellte. Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht habe – nur kann ich sie nicht vorhersehen und muss mit dieser Ungewissheit irgendwie klarkommen.
Das verstehen leider die Behörden nicht, die davon ausgehen, dass Solo-Selbstständige ebenso wie Festangestellte jeden Monat einen vergleichbaren Beitrag verdienen – wozu sonst das Ganze? Sie berücksichtigen dabei nicht, dass Kunden mitunter erst 30 Tage nach Auftragsausführung bezahlen (im schlimmsten Fall läuft man seinem Geld nach) und damit das Einkommen vielleicht in zwei Monaten und nicht in einem Monat auf dem Konto landet. Sie bedenken nicht, dass ich in zwei Wochen einen neuen Kunden bekommen könnte, der viele Arbeitsstunden in Anspruch nimmt, oder dass ein Großkunde, mit dem ich seit fünf Jahren erfolgreich arbeite, aus einem Grund, der nicht unbedingt etwas mit meinen Fähigkeiten oder Preisen zu tun hat, abspringt.
Unternehmer sind der Ungewissheit und Wahrscheinlichkeiten aller Art ausgesetzt, Behörden arbeiten mit klaren Strukturen, Zahlen und Begriffen. Unternehmer arbeiten selbstverständlich ebenfalls mit klaren Strukturen, Zahlen und Begriffen – nur auf einer anderen Grundlage. Sie arbeiten mit Ungewissheit.
Unternehmer lernen daher sehr schnell, Chancen zu sehen und sie zu nutzen. Ich kenne das von mir — ich kann kaum zusehen, wenn jemand von meinen Freunden und Bekannten eine tolle Chance verpasst. Ich mag es auch selbst nicht, die Chancen zu verpassen, da ich weiß, eine Chance kommt nicht selten nur einmal vor. Das kann in Form ungewöhnlicher Aufträge passieren (einmal habe ich einen langen Privatbrief übersetzt — so etwas ist im Vergleich zu „üblichen“ technischen oder sonstigen Übersetzungen äußerst selten). Oder in Form der Aufträgen in den Nischen, in denen man sich noch nicht spezialisiert, wo aber die Nachfrage bereits besteht. Zum Beispiel, musste ich noch vor ein paar Jahren potenzielle Kunden, die Urkundenübersetzungen brauchten, an meine Kolleginnen weiterleiten. Als sich die Zahl der potenziellen Kunden vergrößerte, musste ich darauf reagieren und eine Entscheidung treffen: Entweder leite ich diese Kunden weiterhin an andere weiter oder lasse mich ermächtigen und fertige beglaubigte Übersetzungen selbst an. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden, eine Weiterbildung abgeschlossen und ließ mich beeidigen.
Noch ein Zitat aus der „Antifragilität“, das ich einfach toll finde: „Wenn bei einem Taxifahrer […] eine Woche lang die Einkünfte zurückgehen, liefert das Informationen über das Umfeld, in dem er arbeitet, und gibt die Notwendigkeit zu verstehen, einen neuen Stadtteil zu finden, in dem sich mehr potentielle Kunden aufhalten; ein Monat ohne Einkünfte treibt sie dazu an, ihre Fähigkeiten zu überprüfen und zu verbessern.“ Als freiberufliche Übersetzerin kann ich das aus eigener Erfahrung bestätigen: Sobald ich eine Durststrecke hatte, war ich gezwungen, nach Gründen zu suchen, eine neue Strategie zu entwickeln, eine Weiterbildung zu machen und neue Kunden oder Bereiche zu suchen, die für mich rentabel sind. Da ich ein eher introvertierter Mensch bin, muss ich sagen, dass ich nie so vielen interessanten Leuten begegnet wäre, wenn ich nicht selbstständig gearbeitet hätte. Ich hätte nie so extrovertiert gehandelt und sehr wahrscheinlich nie einen Verband der Übersetzer und Dolmetscher geleitet.
Zurück zu den schwarzen Schwänen
In seinen Büchern nennt Taleb auch Bewältigungsstrategien, die uns die Natur bietet. Dazu gehört Redundanz (zwei Augen, zwei Lungen, zwei Nieren). Ihr Gegenteil ist die Optimierung, d.h. Vernichten dieser zusätzlichen Überlebenschancen (das konnte man vor kurzem sehr gut am Beispiel der „Optimierung“ der Gesundheitssysteme in unterschiedlichen Ländern anschauen, als plötzlich nicht ausreichend Intensivbetten bereitstanden). Das vermeintlich rationale Sparen, verpackt als Optimierung, steht der Redundanz gegenüber und sorgt für katastrophale Folgen im Fall des Auftretens eines unwahrscheinlichen Ereignisses. Da redet man plötzlich nicht von „Optimierung“, sondern von „Kaputtsparen“.
Übertragen wir diese Bewältigungsstrategien auf das Unternehmerleben. In der Regel versuchen Unternehmer mehrere Einnahmequellen zu finden, was ihr Überleben wahrscheinlicher macht. Das können Kombinationen aus Festanstellung und nebenberuflicher Selbstständigkeit sein, Kombinationen aus unterschiedlichen Geschäftsideen (ich wollte eigentlich X machen, die Kunden haben mich aber nach Y gefragt, jetzt mache ich beides); das können Kombinationen aus unterschiedlichen Einnahmequellen sein und natürlich die Grundregel: Nie zu viel für nur einen Kunden arbeiten. Noch ein sehr gutes Beispiel zu Redundanz: die Sicherungskopien und Backups, die regelmäßig gemacht werden sollten. Wir wissen, was passiert, wenn wir keine Sicherungskopien erstellen: prompt geht etwas kaputt, und man sitzt da und schimpft mit sich selbst – schließlich ist die Bedeutung von Sicherungskopien kein Geheimnis, sondern Allgemeinwissen.
Eine weitere Bewältigungsstrategie, die Taleb nennt, ist das Gegenteil der „Spezialisierung“. Die Natur, so Taleb, mag keine zu enge Spezialisierung, weil es die Evolution begrenzt und die Lebewesen schwächt. Das spüren Unternehmer rein intuitiv und auch wenn sie eng spezialisiert sind, verpassen sie nicht das Moment, wenn sie diese Spezialisierung ändern. Fast alle Großkonzerne, die über 100 Jahre existieren, produzieren heute nicht mehr die Produkte und Dienstleistungen, mit denen sie angefangen haben. Der Siegeszug der BASF begann damit, dass bei ihrem eigentlichen Geschäftsmodell (Gasbeleuchtung) als Nebenprodukt Steinkohlenteer anfiel, der dann als Ausgangsbasis für Farbstoffe für die Textilindustrie diente.
Eine weitere Bewältigungsstrategie nach Taleb: Ersparnisse (wieder die Redundanz) anstatt Schulden. „Großmütter, die die Große Depression in den 1930-er Jahren überlebt haben, würden zum genauen Gegenteil von Schulden raten: zu Redundanz. Sie würden uns dazu drängen, erst einmal unser Einkommen aus mehreren Jahren in bar zurückzulegen, bevor wir ein persönliches Risiko eingehen“. Das mag nicht unbedingt offensichtlich sein, weil viele Kredite aufnehmen, um ihr Unternehmen zu gründen, jedoch ist es ein Risikofaktor, der gerade in der jetzigen Situation besonders offensichtlich ist. Für einen Übersetzer als Unternehmer ist es aber relativ leicht, diese Bewältigungsstrategie zu nutzen: Um ein eigenes Einzelunternehmen zu gründen, braucht man anfangs nur umfangreiches Wissen, einen PC oder Laptop, vielleicht noch einen Drucker dazu – also nichts Außergewöhnliches, was sonst nicht fast jeder Haushalt hat.
Diese drei Bewältigungsstrategien erleben Unternehmer, sobald sie ein Unternehmen gründen. Spätestens nach ein paar Monaten Durststrecke ohne Einkommen wird es dem Selbstständigem klar: Man braucht Rücklagen, Bewegungsfreiheit und Flexibilität bei Angeboten, muss sich schnell an die Nachfrage anpassen können und so weiter. Irgendwann erfährt man das am eigenen Leib.
Und wieso taucht der „Schwarze Schwan“ im Titel dieses Abschnittes auf? Mit all diesen Erfahrungen ausgerüstet ist ein Unternehmer (Selbstständiger, Freiberufler) meiner Meinung nach besser auf unvorhersehbare Krisensituationen vorbereitet als ein Nicht-Unternehmer. Ein Unternehmer ist flexibler, agiert und reagiert schneller, hat sehr wahrscheinlich mehr Rücklagen als seine festangestellten Kollegen und ist durch die vorherigen Erfahrungen resilient. Denn die Aufgabe eines Unternehmens ist nicht, Profit zu erwirtschaften, sondern erst mal zu überleben.